Der Apostel Jakobus und das christliche Spanien
Der Beitrag ist bereits im neuen „Jakobusfreund Nr. 35 erschienen, Seiten 19 – 23. Leider fehlen dort die Anmerkungen. Daher erscheint hier der Artikel noch einmal.
Der Apostel Jakobus und das christliche Spanien[i]
Christoph Kühn
Nach den drei synoptischen Evangelien des Neuen Testamentes (Matthäus, Markus und Lukas) ist der Apostel Jakobus der Ältere ein Sohn des Zebedäus und der Maria Salome. Mit Andreas, Simon und seinem Bruder Johannes gehört er zu den zuerst berufenen Jüngern Jesu (Matthäus 4, 21/22; Lukas 5,10). Die Bezeichnung „Boanerges“ (Donnersöhne), die Jesus für Jakobus und Johannes geprägt hat (Markus 3, 17), wird oftmals in Verbindung mit dem Verhalten des Brüderpaares gedeutet: der Bitte von Maria Salome um einen Platz ihrer Söhne zur Rechten und zur Linken Jesu in der Gottesherrschaft (Markus 10, 35-45) sowie dem Verlangen der Brüder nach einem Strafgericht über ein ungastliches Dorf in Samaria (Lukas 9, 53-55). Sicher ist ein solcher Zusammenhang nicht. Die Benennung erinnert vielmehr an den Bericht im Matthäusevangelium, nach dem auch Simon einen Beinamen – Petrus – erhalten hat (Matthäus 16, 18/19). Zusammen mit Simon-Petrus waren die Donnersöhne stets bei besonderen Anlässen zugegen: bei der Erweckung der Tochter des Jairus (Markus 5, 37), der Verklärung Jesu auf dem Berg Tabor (Markus 9, 2) und den Ereignissen im Garten Gethsemane (Markus, 14, 33). In den Beinamen zeigt sich die besondere Stellung, welche die drei Apostel unter den Zwölfen in den synoptischen Evangelien einnehmen.
Die Apostelgeschichte weiß zu Jakobus im Unterschied zu Petrus nicht allzu viel zu berichten. Ihr zufolge wurde der Apostel unter König Herodes Agrippa I. um das Jahr 43/44 in Jerusalem – offenbar als erster unter den Zwölfen – mit dem Schwert hingerichtet (Apostelgeschichte 12, 1-2). Im 4. Jahrhundert erwähnte Eusebius in seiner Kirchengeschichte, dass bereits Klemens von Alexandrien im frühen 3. Jahrhundert diese Hinrichtung mit einer Bekehrungsgeschichte verknüpft habe.[ii] Den Festtag des Apostels, der ursprünglich zusammen mit dem Gedenken an seinen Bruder Johannes am 27. Dezember begangen wurde, verlegte Papst Johannes III. nach 561 anlässlich der Kirchweihe von SS. Apostoli in Rom auf den 25. Juli.[iii]
Versuche, aus den spärlichen Angaben der synoptischen Evangelien Aussagen über Charaktereigenschaften des Apostels abzuleiten, sind oftmals gut gemeint im Sinne einer pastoralen Verkündigung, aber nicht unproblematisch, zumal dann, wenn Analogien zwischen dem neutestamentlichen und dem legendarischen Jakobus hergestellt werden. Die These, dass im angeblichen Jähzorn des Jakobus bei Lukas 9, 54 eine Instrumentalisierung des Apostels als „Maurentöter“ und Indiomörder“ begründet liege, hat sich nicht aufrechterhalten lassen.[iv]
Die spanische Jakobustradition hat sich unabhängig von den Angaben bei Matthäus, Markus und Lukas herausgebildet und baut auf den Evangelien in keinerlei Weise auf. Sie beinhaltet die Erzählungen einer Mission des Apostels auf der Iberischen Halbinsel, der Translation seines Leichnams von Jerusalem nach Spanien an das Ende der antiken und abendländischen Welt im Anschluss an die Hinrichtung in Jerusalem, die Errichtung eines Grabmals und dessen Wiederentdeckung. Sie entwickelte sich seit dem 7. Jahrhundert, als im Breviarium Apostolorum, einer lateinischen Übertragung griechisch-byzantinischer Apostelakten, in welchen den Aposteln verschiedene Bereiche der damals bekannten Welt zugeordnet wurden, erstmals von der Predigttätigkeit des Jakobus in Spanien berichtet wird. In Spanien selbst scheint diese Tradition abgesehen von Isidor von Sevilla (um 560-636) in seinem Werk De ortu et obitu patrum erst im Verlauf des 8. Jahrhunderts breiter rezipiert worden zu sein, nachdem mit Ausnahme eines unbesetzt gebliebenen Randstreifens im kantabrischen Gebirge die Iberische Halbinsel islamisch besetzt worden war. Nach den raschen Gebietsgewinnen der Araber ab dem Jahr 711 sahen sich die Nachfolgestaaten des zusammengebrochenen Westgotenreiches in eine Defensivposition gedrängt und bedurften einer christlichen Identifikationsgestalt. In seinem um 785 entstandenen Kommentar der Johannes-Apokalypse erwähnt der asturische Mönch Beatus von Liébana die Missionstätigkeit des heiligen Jakobus in seinem Land. Noch deutlicher wird der neue Stellenwert, der dem Apostel in Kantabrien zukam, in dem Hymnus O Dei verbum patris sichtbar, den ein unbekannter Autor ebenfalls um 785 im Königreich Asturien dichtete: Als „golden erstrahlendes Haupt Spaniens, als unser Beschützer und helfender Schutzherr“ wird der Heilige hier angesprochen.[v]
Die spätestens um 840 unter König Alfonso II. von Asturien (geb. 759, Regierung 791-842) erfolgte Auffindung des Apostelgrabes und die Legendenbildung um eine Translation des heiligen Leichnams von Jerusalem nach Galicien waren die nächsten und konsequent erscheinenden Schritte, zu denen es freilich eines äußeren Anlasses bedurfte. Erst die Concordia de Antealtares, ein compostelanischer Vertragstext aus dem Jahre 1077, bietet einen ausführlichen Bericht über die Grabentdeckung.[vi] Odilo Engels hat aber nachgewiesen, dass die Auffindung des Jakobusgrabes vor dem Hintergrund des sogenannten Adoptianismusstreites zwischen der romtreuen fränkischen Kirche und der westgotisch-mozarabischen Kirche, die mit ihrem Zentrum Toledo auch nach der arabischen Invasion fortbestanden hatte, gesehen werden muss. Das Königreich Asturien vermochte diesen Streit auszunutzen, indem es sich von der kirchlichen Vorherrschaft Toledos zu lösen verstand, aber auch gegenüber Rom mit dem Hinweis auf eigene Apostelreliquien zunächst ein gewisses Maß an Unabhängigkeit bewahren konnte.[vii]
Es ist nicht auszuschließen, dass der Besitz der Reliquien nützliche Dienste für die Legitimation Asturiens in der Nachfolge des Westgotenreiches und somit im Abwehrkampf gegen die maurischen Besatzer leistete. Doch schweigen sich die frühen Quellen darüber aus; Jakobus erscheint in den asturischen Königsurkunden hauptsächlich als Patron der Dynastie. Erst im 12. Jahrhundert wird ein Patronat des Apostels für das Reich und sogar für die ganze Iberische Halbinsel greifbar.[viii] Auch das Mirakel vom legendären Eingreifen des Apostels als miles christi (Soldat Christi) und deutlicher als Matamoros (Maurentöter) bei der Einnahme von Coimbra 1064 sowie in der sagenhaften Schlacht von Clavijo 844, das in die Ikonographie des Heiligen Eingang gefunden hat, ist in Santiago de Compostela nicht vor dem 12. Jahrhundert nachweisbar. Erst die um 1118 entstandene Historia Silense und einige Mirakel des Liber Sancti Jacobi berichten davon.[ix] Das Wunder wurde seitdem zum sinnfälligsten Symbol der Reconquista, der christlichen Zurückeroberung der Iberischen Halbinsel und ist wahrscheinlich zu ihrer Propagierung entstanden.[x] Zunächst war die Jakobusverehrung jedoch räumlich begrenzt und das Grab lediglich ein Ziel lokaler und regionaler Pilgerfahrten. Immerhin erfuhr der Kult unter Alfonso III. (geb. um 848, Regierung 866-910) eine deutliche Förderung, indem die Grabesstätte durch die Errichtung einer Nebenkathedrale des Ortsbistums Iria Flavia hervorgehoben wurde.[xi]
In die gleiche Zeit fällt auch der eigentliche Beginn der Reconquista durch den Übergang von einer defensiven zu einer offensiven Grenzsicherung.[xii] Im Unterschied zu einer Expansion auf das besiedelte Gebiet der Mauren, wie sie nach dem Jahr 1064 vollzogen wurde, hatte man im 9. und 10. Jahrhundert in dem entvölkerten Landstrich zwischen dem kantabrischen Randgebirge und der Sierra de Guadarrama eine Pufferzone eingerichtet, um die Grenzen der christlichen Reststaaten endgültig zu sichern. Wichtige Stationen dieser ersten Ausdehnungsphase der christlichen Reiche waren die Einnahme von León 845, die Wiederbesiedlung Astorgas um 850, die Gründung von Burgos 884 und die Besetzung der Rioja vor 925.[xiii] Zwar sollten die Expansionsabsichten der nordspanischen Reiche duch die Militärkampagnen al-Mansurs, des Verwesers von Córdoba, einen empfindlichen Rückschlag erfahren – 997 wurde auch Santiago de Compostela zerstört.[xiv] Doch seit 930 befand sich das Gebiet, durch das später der klassische Camino de Santiago führen sollte, geschlossen in christlicher Hand. Ziemlich zeitgleich erwähnen die Markusmirakel der Abtei Reichenau den frühesten ausländischen Santiago-Pilger.[xv] Nur wenig später – 950/51 – ist mit dem aquitanischen Bischof Gotescalcus der erste namentlich bekannte Besucher des Jakobusgrabes von der Ostseite der Pyrenäen bekannt.[xvi]
Anmerkungen:
[i] Erstveröffentlichung in: Christoph Kühn: Die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela. Geschichte, Kunst und Spiritualität. Leipzig 2005, S. 21-26.
[ii] Lexikon für Theologie und Kirche, 5. Band. Freiburg-Basel-Rom-Wien 1996, S. 718.
[iii] Robert Plötz: VIII Kalendas Augusti (25. Juli). Festtag des Apostels Jacobus maior. In: Sternenweg. Mitgliedszeitschrift der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft e.V., Nr. 34, 17. Jg. 2004, S. 3-13, h. S. 9.
[iv] Leonor Ossa: Donnersohn, Maurentöter, Indiomörder. Der Zebedaide und die Gewalt. Frankfurt am Main 2002 (Studia Irenica 38).
[v] Robert Plötz: Der Apostel Jacobus bis zum 9. Jahrhundert. In: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft 1, 30, 1982, S. 19-145, insbes. S. 63-65 und S. 88-94: Jan van Heerwarden: Saint James in Spain up to the 12th Century. In: Wallfahrt kennt keine Grenzen. Themen zu einer Ausstellung des Bayerischen Nationalmuseums und des Adalbert-Stifter-Vereins München, hrsg. von Lenz Kriss-Rettenbeck und Gerda Möhler. München-Zürich 1984, S. 235-247, hier S. 236; Robert Plötz: Traditiones Hispanicae Beati Jacobi. De oorsprong van de cultus van Sint-Jacobus te Compostela. In: Santiago de Compostela. 1000 Jaar Europese Beedevaart. Ausst.-Kat. Gent 1985, S. 27-39, hier S. 30.
[vi] Klaus Herbers: Politik und Heiligenverehrung auf der iberischen Halbinsel. Die Entwicklung des „politischen Jakobus“. In: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hrsg. von Jürgen Petersohn. Sigmaringen 1994 (Vorträge und Forschungen XLVII), S. 177-275. hier S. 196.
[vii] Odilo Engels: Die Anfänge des spanischen Jakobusgrabes in kirchenpolitischer Sicht. In: Römische Quartalsschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, 75. Bd., 1980, S. 146-170.
[viii] Herbers: Politik und Heiligenverehrung, S. 269/270.
[ix] Herbers: Politik und Heiligenverehrung, S. 203-209.
[x] Fedja Anzelewsky: Schongauers Spanienreise. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 58. Bd., S. 1-21, hier S. 15-16; Robert Plötz: Jacobus Maior. Geistige Grundlagen und materielle Zeugnisse eines Kultes. In: Der Jakobuskult in Süddutschland. Kultgeschichte in regionaler und europäischer Perspektive, hrsg. von Klaus Herbers und Dieter Bauer. Tübingen 1995 (Jakobus-Studien 7), S. 171-232, hier S. 200-202; Michael Scholz-Hänsel: Der heilige Jakobus der Ältere und die Mauren: „getürkte“ Bilder eines schwierigen Dialoges. In: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft, 52. Jg., Heft 3/1999, S. 203-213.
[xi] Achim Arbeiter: Die vorromanischen Kirchen des Jakobusheiligtums in Compostela. In: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft, 52. Jg., Heft 3/1999, S. 226-235.
[xii] Odilo Engels: Die Reconquista. In: Ders.: Reconquista und Landesherrschaft. Studien zur Rechts- und Verfassungsgeschichte Spaniens im Mittelalter. Paderborn 1989 (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft NF 33), S. 279-300, hier S. 288.
[xiii] Fernando Lopez Alsina: Die Entwicklung ds Camino de Santiago in Kastilien und León (850-1050). In: Europäische Wege der Santiago-Pilgerfahrt, hrsg. von Robert Plötz. Tübingen 1990 (Jakobus-Studien 2), S. 59-68, hier S. 65.
[xiv] Soha Abboud Haggar: Santiago de Compostela und sein „Weg“ in den arabischen Quellen des Mittelalters. In: Sternenweg 30, 15. Jg. 2002, S. 5-19, hier S. 7-10.
[xv] Klaus Herbers: Frühe Spuren des Jakobuskultes im alemannischen Raum (9.-11. Jahrhundert) – Von Nordspanien bis zum Bodensee. In: Der Jakobuskult in Süddeutschland. Kultgeschichte in regionaler und europäischer Perspektive, hrsg. von Klaus Herbers und Dieter Bauer. Tübingen 1995 (Jakobus-Studien 7), S. 3-28. hier S. 20/21.
[xvi] Robert Plötz: Deutsche Pilger nach Santiago bis zur Neuzeit. In: Deutsche Jakobspilger und ihre Berichte, hrsg. von Klaus Herbers. Tübingen 1988 (Jakobus-Studien 1), S. 1-27, hier S. 10.