Fortsetzung des Beitrags im Jakobusfreund Nr. 35
… Und das Schöne dabei ist, diese Menschen teilen das Dach über dem Kopf, sie teilen ihre Vorräte und essen und trinken gemeinsam. Dort werden Brücken von Mensch zu Mensch gebaut, es werden Vorurteile abgebaut. Und wenn die Sprache zur Verständigung nicht ausreicht, das Lächeln ist die erste Sprache der Verständigung. Das erste Lächeln eines Kindes entzückt die junge Mutter. Es ist das erste Zeichen des Erkennens und des Anerkennens. Es funktioniert auch außerhalb des Caminos, versuchen Sie es mal. Man spricht nicht umsonst von einem „entwaffnenden Lächeln“.
Dieses Lächeln ist dann die Verbindung der Pilger untereinander. Ich war mit Franzosen und Spaniern unterwegs auf dem Camino und konnte ihre Sprache nicht sprechen, aber mit einem Lächeln bin ich immer durchgekommen und auch andere Pilger berichten da von gleichen Erfahrungen.
Gleiche Erfahrungen machen wir Pilger aber auch noch mit einem weiteren Phänomen, mit den ENGELN des Caminos. Diese Engel sind vielseitig, immer da, wenn man sie braucht. Sie kommen nicht mit Flügeln herangerauscht, sie beeindrucken uns nicht durch gleißendes Licht. Nein, sie sind eher unscheinbar, sie sind wie du und ich. Sie haben das Pflaster zur Hand, wenn du dich verletzt hast, das Tempotuch, um deine Tränen zu trocknen, tragen dir nach, was du liegengelassen hast. Sie haben noch einen Schluck Wasser, wenn du am Ende bist, einen Traubenzucker, leihen dir einen Stock usw. Sie sind dann da. Und so gibt es viele ENGEL- Geschichten. Der Engel, der Bote, ist dein Nächster, der Pilger neben dir, der Anwohner, der dich an die Hand nimmt. Heute ist er für dich Engel, Morgen bist du es für einen anderen.
Und das weitere ist der sogenannte Zufall. Ein Beispiel: Ich stehe vor einer verschlossenen Kirche. In diesem Augenblick fährt ein Auto vor. Eine Frau steigt aus und schließt die Kirche auf. Sie hat einen Anruf bekommen, jemand hätte in der Kirche die Brille vergessen. Und ich bekomme eine Kirchenführung geschenkt. Oder: Ich bin mittags in eine Kapelle gegangen und habe dort meine Pause gemacht. Es regnet und weder Gaststätte, noch Geschäft sind in dem kleinen Dorf. Als ich aufbreche, hupt ein Auto, es ist die Post. Ich denke: Jakobus, da hättest du mir besser einen Bäckerwagen geschickt. Es hupt wieder und der Bäckerwagen kommt.
Seit der Zeit rede ich nicht mehr vom Zufall, sondern von dem, was mir zufällt. Und ich bin dafür aufmerksam geworden und anderen Pilgern geht das auch so.
Fast jedem Pilger geht es so, wie es auch mir gegangen ist. An irgendeinem Tag gibt es Tränen. Oft sind es Tränen des Schmerzes, wenn die Sehnen überstrapaziert sind, die Muskeln schmerzen, wenn Blasen an den Füßen jeden Schritt zur Qual machen. Vor allem in den ersten Tagen, wenn der Körper sich noch nicht gewöhnt hat an das tägliche Gehen, wenn du dich dann fragst: warum mache ich das eigentlich, was will ich hier? Und manchmal zwingt der Körper einen auch zum Abbruch des Weges.
Aber meist sind die Schmerzen vorübergehend, die Blasen verheilen, die Muskeln und Sehnen gewöhnen sich an das tägliche Pensum. Die Anstiege sind nach einiger Zeit nicht mehr so anstrengend, weil das Gehen Herz und Kreislauf stärkt. Und so positiv sich das Gehen auf den Körper auswirkt, so positiv wirkt es auch auf das innere Gleichgewicht. Man hat sich eingelaufen, es läuft sich von selbst und so beginnen die Gedanken zu kreisen. Ich denke über mich nach, ich darf einfach nur an mich denken, was ich fühle, was mir gut tut. Aber meine Gedanken gehen auch zur Familie, zu Kindern und Enkeln, sie gehen zu Freunden und Kollegen. Ich kläre meine Beziehungen; wer ist mir wichtig, wer belastet mich? Ich kläre auch meine Beziehung zu Gott: wofür bin ich ihm dankbar, welche Probleme habe ich mit ihm? Und bei manchen Wendungen meines Lebens stelle ich im Nachhinein fest: es ist gut so, wie es gelaufen ist, auch wenn ich mir damals etwas anderes gewünscht hätte. Und auch da fließen dann Tränen, Tränen der Erleichterung, Tränen der Aussöhnung mit mir selbst und mit Gott.
Und so gehe ich dann km um km, alleine, mit anderen Pilgern, erlebe viel Neues, nehme viele Bilder in mich auf, und irgendwann kommt dann der Gedanke auf, „wann bin ich endlich da?“. Wann tauchen die Türme dieser einen Kathedrale am Ziel auf? Und der inzwischen gut trainierte Körper verlängert die Etappen, die Ungeduld, die Sehnsucht anzukommen treibt mich vorwärts. Und ich lasse mich mitziehen von der großen Zahl der Mitpilger dem gemeinsamen Ziel entgegen. Bei mir begann dieser Drang auf den letzten 10% meines Weges. Ja, ankommen, und dann nach Hause. Aber, will ich wirklich schon ankommen? Gleichzeitig widerstrebt ein Teil in mir. Ich möchte diese Freiheit, diese Geborgenheit, dieses familiäre Gefühl mit den Mitpilgern weiter auskosten. Was wird danach mit mir? Wie werde ich mich zu Hause wieder einfügen nach 3 ½ Monaten unterwegs sein? Aber unerbittlich schwinden die Kilometer.
Und dann ist er da, der ersehnte Moment. Der erste Blick vom Berg der Freude, vom Monte do Gozo auf die Stadt, die da im Dunst vor mir liegt. Noch 5 km auf den Straßen einer Stadt, ganz gebaut aus dem Granit der Umgebung. Ich überquere Autobahn und Eisenbahn, die Kathedrale ist nicht mehr zu sehen, zieht aber mit großer Kraft an mir. Bin ich noch richtig? Aber die Muschel bringt mich sicher durch das Labyrinth der Altstadt und dann steht die Kathedrale vor mir und durch meinen Tränenschleier hindurch taste ich mich mit meinen Stöcken die Treppe zur Kathedrale hinunter, unendlich froh und glücklich. Wie es der Brauch und mein Herz wollen, umarme ich den Apostel, dabei folge ich seinem Blick, der mich auf den Mittelpunkt, den Altar weist. Dann geht der Weg zum Grab des Apostels hinunter in die Krypta, meinen Dank abstatten für alles, was ich auf dem Weg erlebt habe. Und nachdem ich ein Quartier gefunden habe, sitze ich noch lange Zeit in der Kathedrale. Ich habe einen ganzen Rucksack voller Gebetsbitten mitgebracht, angefangen vom Domprobst, der mir im Kölner Dom den Pilgersegen gab, von den vielen Menschen, die ich am Wege traf und die, die mir unterwegs zu Hilfe kamen, meine Camino-Engel. Und zum Schluss noch für die, die ich vielleicht vergessen hatte. Und mir wurde bewusst, da, wo ich nicht mehr konnte, bin ich getragen worden. Dankbar und müde sitze ich da, erst jetzt merke ich die Erschöpfung, wie ein Luftballon, aus dem die Luft entweicht. Aber ich durfte ankommen.
Und jetzt? Jetzt denke ich gerne und mit Wehmut an diese Zeit zurück. Und es bleiben die Erfahrungen des Gottvertrauens, das Wissen, wie wenig ich eigentlich benötige, die Kraft Vieles loslassen zu können.
Nein, nochmal den ganzen Weg? Das schaffe ich nicht. Aber immer wieder ein Stück hier oder da… Oder auf dem Weg etwas Camino-Engel sein, in einer Herberge arbeiten und etwas von dem großen Geschenk zurückgeben, das ich bekommen habe. Und so ist der Weg für mich nur verwandelt und nicht beendet, denn der eigentliche Pilgerweg ist der Weg durch den Alltag unseres Lebens.
Gerda Montkowski