Von der Pader an den Tiber
Eine Radpilgerreise von Paderborn nach Rom entlang der Via Francigena
Fortsetzung aus Jakobusfreund Nr. 35
… In besonderer Erinnerung bleibt mir die Etappe von Lucca nach Colle di Val d‘Elsa. Beim Frühstück in der Pension Il Linchetto gibt mir die Wirtin noch wertvolle Tipps für den Pilgerstempel (Via Francegina-Museum). Ich schlendere also nochmal durch die Stadt und kann mich kaum losreißen. So beeindruckend sind die Häuserreihen, durchsetzt mit herrschaftlichen Palästen, schattigen Innenhöfen und Kirchen. Als ich mit dem Zentrum und den kreisförmig angeordneten Häusern ein ehemaliges Amphitheater bestaune, wird es aber wirklich Zeit. Es wartet noch eine Menge Arbeit auf mich. Nach einer langen Flachetappe durch zahlreiche Dörfer geht’s rauf zu San Miniato, einem netten kleinen Dorf hoch oben auf dem Berg und inmitten von Weinbergen, kühlen Eichenwäldern und saftigen Weiden. Ich radle hügeliges Auf und Ab in klassischer Toscana-Szenerie. Alles so, wie man es sich vorstellt: Zypressen-Alleen, die zu ausladenden Weingütern führen, üppige Weinberge, saftige Weiden mit unzähligen Kräutern, die in der Abendsonne der Toskana nochmals intensiver duften. Ich möchte einfach stehenbleiben und alles festhalten. Nach schier endlosen Hügeln erreiche ich schließlich mit „letzter Kraft“ Colle di Val d‘Elsa. Die Eindrücke sind unbeschreiblich. Ich habe buchstäblich die Toskana mit allen Sinnen erfahren.
Latium und Roma
Die Landschaft von Latium überrascht mit einem ausgedehnten Netz an Nebenstraßen, die von Olivenbäumen, Gemüsegärten und Weinbergen gesäumt sind. Irgendwie alles üppiger als in der Toskana, aber nicht weniger anspruchsvoll.
Ich sitze in der Abendsonne am Lago di Bracciano nach einem letzten Ruhetag vor der wiederum letzten Etappe der Via Francigena in die Ewige Stadt. Morgen sollen mich die verbleibenden 47 km auf die Piazza San Pietro führen. Ich konnte an diesem wunderschönen Campingplatz, „Roma Flash“, einfach nicht vorbei. Es ist fast nichts los, nur ein paar Rentner mit Wohnmobilen. Ich habe mein Zelt direkt am See aufgebaut, blicke über das Wasser und genieße den letzten Sonnenuntergang.
Nach gut 10 Tagen stößt schließlich auch Nick aus London wieder zu mir, mit dem ich durch die Alpen geradelt bin. Nach seinem Ruhetag in Milano hatte ich immer einen Tag Vorsprung. Nun wollen wir das Ziel gemeinsam angehen.
Am nächsten Morgen radeln wir beide nach Dopio und Croissants an der Tankstelle lange still, in Gedanken versunken, vor uns hin. Der Verkehr wird immer dichter und macht uns schnell klar, dass wir den Großraum Rom schon erreicht haben. Wie überall, so gilt auch in Rom: Null Toleranz gegenüber Radfahrern. Es nervt einfach!
Der direkte Weg zu Piazza San Pietro ist mühsam. Vom ausgewiesenen Radweg entlang des Tiber führen immer wieder nur steile Treppen hoch zur Promenade. Gepäck abnehmen, Gepäck hochtragen, Rad hochtragen, Gepäck montieren, …
Dann endlich nach ein paar Metern auf der Via San Pio X biegen wir erleichtert und stolz, den Weg bis hierher aus eigener Kraft geschafft zu haben, nach links in die Via della Conziliazione ein, in deren Flucht sich der Petersdom markant erhebt. Der Touristenstrom in Richtung der Basilika unterstreicht seine beeindruckende Sogwirkung.
Nach fast 2.000 km hat das Rad eine Inspektion verdient. Und tatsächlich überzeugt mich Dr. Bike, dass neue Bremsbeläge und eine neue Kette dringend erforderlich sind. Wir fahren gemeinsam mit einem Taxi bei mittlerweile eingesetztem Gewitterregen zu unseren Unterkünften direkt an den Mauern des Vatikans. Ich habe am Vortag ein Einzelzimmer in der Casa per Ferie Ravasco, einem ordensgeführten Gästehaus für vier Tage gebucht. Gut und günstig, mitten in Rom.
Pasta, Pizza und ein paar Birra Grande sind schließlich abends die Zutaten, um das Erreichte und die gemeinsame Zeit auf der Strecke nochmal zu feiern. Der quirlige Bezirk Ponte, gegenüber dem Castel Sant‘Angelo, mit seinen ausgezeichneten Restaurants und Bars ist genau der richtige Ort dafür.
Den folgenden Tag verbringe ich mit der Suche nach dem Pilgerbüro in der Stadt. Nach einer schweißtreibenden Suche nach dem richtigen Ansprechpartner in mehreren Stellen quer durch die Stadt, muss ich, als Höhepunkt des Tages, nochmals in die Basilika, da der Vatikan mittlerweile nur noch höchstselbst Pilgerurkunden ausstellt. Also, Einreihen in die Schlange der Touristen vor dem Petersdom (bei 34°), Aufsuchen der Sakristei und Empfang der Urkunde. Halleluja!
Bei all den Herausforderungen und Widrigkeiten war die Reise bis hierher wunderschön, mit grandiosen Naturerlebnissen, mit der mystischen Aura all der Kirchen und Klöster, die mich täglich zum Innehalten eingeladen haben, vielen Bekanntschaften entlang des Weges und prägenden Erlebnissen. Inspirierend waren für mich vor allem die unterschiedlichen Radreisenden, mit denen ich geradelt bin, alle mit ihrer jeweils eigenen Motivation, aufzubrechen, zu suchen und … zu finden. Vor allem sich selbst!
Die Rückfahrt
Entspanntes Radfahren ist für Fernradler in Italien ziemlich schwierig. Ich reise also mit dem Zug nach Venedig, um von hier aus auf dem Alpe-Adria-Radweg die Alpen zu überqueren
Ab Mestre fahre ich locker und flach nach Udine an den Radweg heran Dann geht’s in die Berge. Majestätisch erheben sich die Riesen langsam und immer greifbarer. Die etwa 800 Höhenmeter bis Tarvisio werden in weiten Teilen über eine stillgelegte Bahntrasse erreicht, also nicht so schlimm. Ab Tarvisio verläuft der Weg zunächst bergab bis Villach. Immer weiter entlang des Drau-Radweges, in Richtung Hoher Tauern, erreiche ich mit Mühldorf die letzte Station vor der ‚Königsetappe‘! Hoch nach Mallnitz, zum Autoshuttle durch den Tunnel nach Böckstein, muss man aus dem Stand ab Obervellach auf 7 km ca. 500 Höhenmeter auf etwa 1.200 m absolvieren. Ich fahre mit meinem gut 20 kg zusätzlichem Gepäck, mittlerweile in einer Art Trance und allein mit mir inmitten wunderschöner Natur mit einem spektakulären Alpenpanorama. Das ist Pilgern von seiner besten Seite: In der Sinnlichkeit der Natur und im Rhythmus des Fahrens völlig aufzugehen. Ab Böckstein geht’s dann ordentlich bergab u.a. über Bad Gastein erreiche ich bald die Salzach, die mich weiter über Schwarzach und Bischofshofen bis Salzburg begleitet. Noch zwei Etappen, entlang der Salzach bis Burghausen und dann mit dem Inn an die Donau bei Passau, bleiben mir, bevor der angekündigte Wetterumschwung mit Starkregen mich wieder auf die Schiene zwingt.
Nach 15 Stunden, gut 700 km und dem Einsatz meines 9-EURO-Tickets steige ich erschöpft, aber glücklich um 22:00 Uhr am Pfingstsonntag nach meiner bis dahin härtesten Etappe in Paderborn aus dem Zug.
Ich nehme mir die Zeit und genieße in der Abenddämmerung die gemächliche Heimfahrt, nicht ohne nochmal dem Paderborner Dom einen „Guten Abend“ zu wünschen und, zufrieden mit dem Erreichten und mit mir selbst, all den noch unentdeckten Rad- und Pilgerwegen da draußen zuzurufen:
„WIR SEHEN UNS“
In diesem Sinne Cheers und frische Pilgergrüße
Christoph Lücke